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Welche Rolle spielen Physiotherapeuten in der COVID-19-Pandemie?

Gegenwärtig behandeln Physiotherapeuten immer häufiger Patienten mit Beschwerden, die mit COVID-19 in Verbindung stehen. Hierzu zählen Müdigkeit, Kurzatmigkeit, Gedächtnis- und Konzentrationsprobleme, Muskel- und Gelenkschmerzen, Fieber, Halsschmerzen und Veränderungen bei Geruchs- und Geschmackssinn. Gemäß der vorläufigen Definition spricht man von Long COVID, wenn die Beschwerden nach einer Ansteckung mit dem Virus länger als 12 Wochen anhalten. Obwohl noch sehr wenig über die (langfristigen) Folgen des Virus bekannt ist, hat sich zwischenzeitlich gezeigt, dass Patienten die Behandlung, durch ein multidisziplinäres Team zugutekommt. Dafür kommen Hausarzt, Ergotherapeut, Psychologe, Logopäde, Diätberater und natürlich der Physiotherapeut infrage. Anlässlich des World Physical Therapy Day, heute am 8. September, haben wir mit den Physiotherapeuten Lisa, Jasper und Eva über ihre Erfahrungen in der Pandemie gesprochen.

Bei welchen Beschwerden nach einer Ansteckung mit COVID-19 kann der Physiotherapeut helfen?

Worüber sich die drei Therapeuten absolut einig sind: Den COVID-19-Patienten gibt es nicht. Das ist nur logisch, da schon über 200 spezifische Beschwerden registriert wurden, die in unterschiedlichen Kombinationen und Schweregraden auftreten können. Darüber hinaus gibt es auch Patienten, die bereits aufgrund anderer Beschwerden behandelt wurden. Eva: „Zu uns kommen Patienten, die vor ihrer COVID-19-Infektion gesund waren und erst danach diverse Beschwerden hatten. Aber es gibt auch Patienten, die neben den Folgen von COVID-19 auch noch mit anderen Krankheiten bzw. Erkrankungen zu kämpfen haben.“

Und wenn es nicht den einen Patienten gibt, dann gibt es natürlich auch nicht die eine Behandlung. Lisa: „Wie immer betrachten wir den Patienten als Individuum. Deshalb erfassen wir zunächst die Störungen und Einschränkungen und beginnen dann zielgerichtet mit der Therapie. Dadurch werden alle relevanten COVID-19-Beschwerden, die der Patient zeigt, bei der Behandlung berücksichtigt. Dies aber natürlich innerhalb der Möglichkeiten und Grenzen, die eventuelle Komorbiditäten mit sich bringen.“

Zur Erfassung der Störungen und Einschränkungen führen die Therapeuten zunächst ein Anamnesegespräch. Darin berichtet der Patient über seine eigenen Erfahrungen und die subjektiven Probleme des Patienten werden aufgenommen. Daran schließt sich eine Untersuchung durch den Physiotherapeuten an, in der die objektiven Probleme festgestellt werden. Die Ergebnisse beider Untersuchungsbestandteile werden dann miteinander verbunden. Eine vom Patienten erlebte Einschränkung bei der Belastbarkeit lässt sich beispielsweise durch eine verringerte Muskelkraft der Bein- und/oder Atemmuskulatur und eine reduzierte Ausdauer erklären. Anschließend wird die Behandlung darauf abgestimmt.

Welche Rolle spielt der Physiotherapeut bei der Behandlung eines Patienten mit Long COVID?

Die Hilfe, die ein Physiotherapeut einem Patienten mit (langfristigen) Beschwerden nach durchstandener COVID-19-Infektion bieten kann, hängt von den Beschwerden ab und ist daher sehr unterschiedlich. Eva: „Ein 52-jähriger Mann zeigte rund ein halbes Jahr nach seiner COVID-19-Ansteckung ein anhaltend reduziertes Energieniveau, eine verringerte Belastbarkeit und Kurzatmigkeit. Wo er ansonsten ohne Probleme stundenlang laufen konnte, gelang ihm das jetzt kaum noch 10 Minuten. Wir haben mit einer langsamen Steigerung der Belastbarkeit mittels Übungstherapie begonnen, die sowohl auf Ausdauer als auch auf Muskelkraft abzielte. Die Behandlung schlug gut an: Nach circa drei Monaten schränkte ihn seine Kurzatmigkeit nicht mehr in seinen Aktivitäten ein.“ Jasper: „Eine Patientin von Ende 60 hatte nach einer durchstandenen Infektion Probleme mit veränderter Geschmackswahrnehmung, war darüber hinaus aber auch extrem müde und kurzatmig. Ich habe bei ihr zunächst mit Atemübungen begonnen, um dadurch eine Lungenentzündung zu vermeiden.“ Eva: „Bei mir wurden auch Patienten mit Verspannungen in Rücken und Nacken aufgrund von Bettlägerigkeit und häufigem Husten vorstellig. In diesen Fällen bestand meine Behandlung neben körperlicher Aktivierung auch aus der Lockerung der betroffenen Muskeln, durch beispielsweise Triggerpunkt-Behandlung, Massage und Dehnen. Falls erforderlich zeigte ich ihnen auch Entspannungsübungen für zu Hause.“

Wie kann der Physiotherapeut bei indirekten Folgen von COVID-19 helfen?

Der Physiotherapeut kann nicht nur bei den direkten Folgen des Virus helfen, sondern auch bei Beschwerden, die damit indirekt in Verbindung stehen. Eva: „Ich hatte im vergangenen Jahr mehr Patienten mit Nacken- und/oder Rückenbeschwerden, als üblich. Ursache hierfür war die Homeoffice-Pflicht und die schlechte Arbeitsplatzgestaltung, die bei vielen damit einhergeht. Für die Optimierung des heimischen Arbeitsplatzes schalte ich Ergotherapeuten ein. Ich selbst zeige den Patienten Haltungsübungen und gebe Tipps und Empfehlungen, wie der Körper möglichst wenig unter den veränderten Bedingungen leidet.“ Jasper: „Ich hatte Patienten, die durch die langanhaltende Schließung von Sportstudios oder -vereinen sehr passiv wurden, was wiederum zu Gewichtszunahme und Rückenbeschwerden geführt hat. In diesem Fall versuche ich ihnen vor allem Übungen zu zeigen, die sie auch zu Hause machen können, damit sie weniger von ihren Vereinen abhängig sind.“

Der Physiotherapeut zeigt den Patienten, also ihre Beschwerden auf und sucht gemeinsam mit ihnen nach einem Weg, die Situation - sei es bei der Arbeit, beim Sport oder im Alltag - so optimal wie möglich zu gestalten. Außerdem verweist der Physiotherapeut den Patienten - falls erforderlich über den Hausarzt - an andere (para-) medizinische Disziplinen. Ein multidisziplinäres Team ist deshalb ein Muss, ganz gleich für welche COVID-19-bedingten Beschwerden. Lisa: „Bei mir waren Patienten, vor allem Jugendliche, mit körperlichen Beschwerden, für die es keinen direkten Bezug zu COVID-19 gab, die aber gleichzeitig psychische Beschwerden aufgrund der sozialen Isolierung hatten. Nach Abstimmung mit dem Patienten schalte ich dann zuerst einen Hausarzt für eine eventuelle Überweisung an einen Psychologen ein. Anschließend beginnen wir gemeinsam mit einem Übungsprogramm, weil Aktivierung nachweislich zur Linderung psychischer Beschwerden beiträgt.“ Außerdem werden bei den befragten Physiotherapeuten mehr Patienten, aufgrund der aufgeschobenen Pflege im Krankenhaus vorstellig. Lisa: „Die schlimmsten Fälle, die ich gesehen habe, waren Menschen, die unter dem Aufschub der regulären Pflege zu leiden hatten. Es geht dabei beispielsweise um Patienten mit schwerer Arthrose in der Hüfte oder im Knie. Physiotherapie ist dann das Einzige, das den Schmerz und die Einschränkungen noch einigermaßen erträglich macht. Der Fokus liegt dabei nicht nur auf Schmerzlinderung, sondern auch auf dem Erhalt der Funktionalität. Dafür nutze ich häufig Dry Needling, Gelenkmobilisierung und Übungstherapie.“

Wann sollte ich mich an einen Physiotherapeuten wenden?

Einige körperliche und/oder psychische Beschwerden verschwinden nicht von selbst. Das ist bei COVID-19-Beschwerden nicht anders. Es ist nicht schlimm, dem Körper etwas Zeit zu geben, seinen eigenen Weg zu finden. Sobald aber klar wird, dass sich kein Fortschritt oder eine Stagnation zeigt, ist es sinnvoll, professionelle Hilfe einzuschalten. Die Bedeutung eines multidisziplinären Teams sollte dabei nicht unterschätzt werden. Und in einem multidisziplinären Team leistet der Physiotherapeut einen nützlichen und unverzichtbaren Beitrag. Wenn Sie also selbst COVID-19 hatten und Beschwerden und Einschränkungen bei Bewegungsfunktionen feststellen, dann sollten Sie unbedingt einen Termin bei einem Physiotherapeuten vereinbaren. Auf  physioaustria.at, physio-deutschland.de, oder svomp.ch finden Sie Physiotherapeuten in Ihrer Nähe, die Erfahrungen mit Lungenkrankheiten haben und für die Behandlung von Menschen mit Long COVID (langfristige Folgen einer COVID-Infektion) geschult sind.